Waldemar Steingötter ist „Gerechter unter den Völkern“


Zur feierlichen Überreichung der Medaille sind Fritz Steingötter und sein in der Schweiz lebender Bruder Peter nun in die die Botschaft nach Berlin geladen. Der Name Waldemar Steingötter wird an der Ehrenwand im Garten der Gerechten in Yad Vashem angebracht.

Waldemar Steingötter hatte 1932 in der Schmelzmühle in Vockenhausen die Lederwerke Taunus gegründet und produzierte vor allem Portefeuille- und Schuhleder. Im Krieg mussten die Lederwerke Taunus von 1943-1945 dem Frankfurter Rüstungsbetrieb Karl Zell weichen, der wegen der Luftangriffe von Frankfurt nach Vockenhausen verlegt wurden. Waldemar Steingötter wurde dienstverpflichtet. Er leitete ab 1941 als Treuhänder mehrere Lederfabriken in Lublin, im Osten des von den Deutschen besetzten Polens. Die Fabriken hatte man den jüdischen Besitzern abgenommen.

Rund 60 Arbeiter, darunter 40 jüdische, waren dort beschäftigt. Von Zeit zu Zeit mussten die jüdischen Arbeiter in das Lager zurück, wenn dort Selektionen durchgeführt wurden. Wer selektiert wurde, kam sofort in das Vernichtungslager Lublin-Madjanek. Für das Überleben wichtig waren die „J-Ausweise“, die eine Arbeitserlaubnis bescheinigten. Auch Pinchas Zyskind durfte außerhalb des Lagers, in das er 1940 kam, in einer Lederfabrik arbeiten. Als er erwischt wurde, Essen in das Lager zu schmuggeln, wurde er mit Hieben bestraft. Am nächsten Morgen trugen seine Freunde den blutigen Zyskind in die Lederfabrik. „Welches Schwein hat das gemacht?“, empörte sich Steingötter und versorgte den Verwundeten.

Im November 1942 begannen die deutschen Besatzer, die Arbeitslager in Lublin zu schließen und die jüdischen Gefangenen in das Vernichtungslager Madjanek zu überführen. Steingötter warnte seine Arbeiter und riet ihnen, sofort zu fliehen. Er gab Zyskind Leder, um die auffällige Häftlingskleidung zu überdecken. Zyskind konnte mit einem Freund entkommen und sich der polnischen Widerstandsbewegung anschließen bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Nun war es an Zyskind, nach seinem Retter Waldemar Steingötter zu suchen. Der sowjetische Kommandeur half ihm, und nach vielen Tagen entdeckte man Steingötter völlig erschöpft in einem Gefangenenlager. Zyskind konnte bezeugen, dass Steingötter in schweren Zeiten das Herz am rechten Fleck gehabt hatte, und verschaffte ihm so die Freiheit.

2017 kamen über 300 Teilnehmer aus aller Welt zu einer Konferenz in Lublin zusammen. Hier berichteten sie über das Schicksal ihrer Familien und versuchten Antworten zu finden. Als die Tochter von Pinchas Zyskind von der Rettung durch Waldemar Steingötter berichtete, stellte sich heraus, dass nicht nur sie den Namen Steingötter kannte.

Auch Josef Rosen hatte in einer Lederfabrik für Steingötter gearbeitet. Er und Steingötter hatten sogar zusammen in Freiberg ihr Handwerk gelernt.  Steingötter hat die Familien Rosen und Bursztyn in der Fabrik versteckt, die schon mehrfach der Verhaftung entgangen waren. Die kleine Tochter Dina Rosen musste sich den ganzen Tag in einem Schrank verborgen halten und konnte nur nachts zwischen den trocknenden Häuten herumlaufen.

In einem Interview, das 1995 von der von Steven Spielberg gegründeten Shoa Foundation aufgezeichnet wurde, beschrieb Walter Rosenbush seine Erlebnisse. Auch er hatte in der Lederfabrik Steingötters gearbeitet. 1942 wurde das Ghetto Majan Tatarski aufgelöst, auch die Menschen mit Arbeitspapieren wie Walter Rosenbush und weitere 20 jüdische Arbeiter kamen in das Vernichtungslager Lublin-Madjanek. Plötzlich stand Waldemar Steingötter mit einem Gestapo-Chef im Lager. Er gelang ihm, alle jüdischen Arbeiter aus der Lederfabrik wieder frei zu bekommen.

Am 19.3.1943 kam die Gestapo zur Fabrik und holte die letzten jüdischen Arbeiter ab. Doch Steingötter hatte Rosenbush gewarnt. Rosenbush konnte fliehen. Einige Menschen wurden beim Fluchtversuch erschossen, alle anderen wurden nach Madjanek gebracht und ermordet.

Rosenbush erzählte, dass er nach dem Krieg Waldemar Steingötter in Deutschland besuchte. In einem Brief schrieb er 1945 nach Eppstein: „Ich danke Ihnen so sehr, dass sie mich aus Madjanek gerettet haben, vor dem sicheren Tod trotz aller Schwierigkeiten. Das werde ich nie vergessen. Auch in schwierigsten Zeiten sind Sie Mensch geblieben. Von allen, die in der Fabrik arbeiteten, haben nur Rosen, sein Bruder und der alte Bursztyn überlebt. Rosen bat mich, herzliche Grüße auszurichten. ….“.

Der Kontakt brach mit dem Tode Waldemar Steingötters 1949 ab. Ab 2017 suchten die Nachkommen der Geretteten im Internet nach Steingötters Familie. Sie fanden einen Zeitungsartikel über ein Haus im „Bauhaus-Stil“, das Robert Michel 1934 in Eppstein-Vockenhausen für die Familie Steingötter entworfen hatte. So erhielt der Besitzer Fritz Steingötter plötzlich einen Anruf aus Israel. 2018 kam es zum Treffen in Basel. Die Nachkommen erzählten Fritz und Peter Steingötter detailliert, wie ihr Vater Waldemar im Krieg Menschen gerettet und wie Oskar Schindler jüdische Arbeiter vor dem Tod bewahrt hatte.